Bedingungen für eine gelingende Enquete-Kommission
Vorschlag für eine Enquete-Kommission „Fluchtursachen bekämpfen“
von Dr. Volker Hauff, Bundesminister a.D.
Berlin, 19. Oktober 2017
Seit 1969 gibt es in der Bundesrepublik die Möglichkeit, Enquete-Kommissionen zu bilden. Grundlage ist der Paragraph 56 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages: „(1) Zur Vorbereitung von Entscheidung über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe kann der Bundestag eine Enquete-Kommission errichten.“
Der Text mag zunächst etwas allgemein erscheinen, aber er enthält zwei klare Hinweise auf die Arbeit einer Enquete-Kommission; es geht um:
1. „Umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe“ und
2. die „Vorbereitung von Entscheidungen“
Es geht also nicht um die Fortsetzung der Arbeitsweise und Arbeitsplanung der „normalen“ Ausschüsse des Deutschen Bundestages. In den meisten Fällen besteht die Aufgabe eines Ausschusses des Deutschen Bundestags darin, für die in der politischen Diskussion befindlichen Handlungsoptionen eine Vorlage für das Parlament zu erstellen, die mehrheitsfähig, auf jeden Fall abstimmungswürdig ist.
Seit 1969 wurden insgesamt 27 Enquete-Kommissionen gebildet. Mit sehr unterschiedlichen Arbeitsprozessen und Ergebnissen. Einige sind in Vergessenheit geraten – wie beispielsweise die letzte über „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ (2010-2013). Andere haben sehr konkrete Auswirkungen gehabt – wie beispielsweise die allererste zum Thema „Psychiatrie“ (1971 -1979). Einige sind besonders gut gelungen und haben die politische Diskussion befruchtet; für mich zählt dazu auf jeden Fall die Enquete-Kommission zum Thema „Zukünftige Kernenergie-Politik“ (1979-1980) mit dem Vorsitzenden Reinhard Ueberhorst. Seit dieser Zeit hat Ueberhorst über den Zusammenhang zwischen dem Aufgabenverständnis und einer aufgabenorientierten Methodik von Enquetekommissionen geforscht und seine Ergebnisse in zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen veröffentlicht. Darüber haben wir zahllose Gespräche geführt. Meine Argumentation greift wesentliche Ergebnisse seiner Gedanken auf.
Wenn man darüber nachdenkt, was die Gemeinsamkeiten der erfolgreichen Enquete-Kommissionen sind, dann stößt man auf vier Merkmale:
1. Das beginnt mit dem ernsthaften Versuch, in der Kommission eine Verständigung darüber zu finden, was denn der „umfangreiche und bedeutsame Sachkomplex“ ist – also die Frage: Über was reden wir? Das ist kein triviales Problem, denn es gilt schon der Satz: Der kürzeste Weg zu gemeinsamen Antworten ist der Umweg über die Entwicklung gemeinsamer Fragen. Diese Verständigung über den „Sachkomplex“ muss die Zustimmung von Menschen mit ganz unterschiedlichen Grundauffassungen zu diesem Thema finden.
2. Das zweite ist die Frage: Über was streiten wir? Ein Streit ist nur dann sinnvoll, wenn Handlungs-Optionen gefunden werden, die eine begründbare Strategie im Umgang mit dem „Sachkomplex“ erkennen lassen. Es geht nicht um die Frage, ob die eine oder andere Option mehrheitsfähig ist oder nicht; sondern darum, Optionen zu finden, die einen strategischen Ansatz im Umgang mit dem Sachkomplex erkennen lassen.
3. Das Dritte ist dann das Für und Wider der erarbeiteten Handlungsoptionen – insbesondere, wenn deutliche Meinungsunterschiede die Diskussion prägen: Wie können Dissense erklärt werden? Welche Rolle spielen Leitbilder und Bezugssysteme? Der Eine mag von einer Industriellen Wachstumsgesellschaft ausgehen, der andere von einer Postwachstumsgesellschaft und der Dritte vielleicht von einer Nachhaltigen Entwicklung. Einige streben einen starken Staat an, andere einen gestaltenden Staat und die Dritten wollen ganz einfach weniger Staat. Das sind einige Beispiele, die darauf hindeuten, dass darüber diskutiert werden muss, wenn man nach Gründen für den Dissens sucht.
4. Und das Vierte ist die Frage aller Fragen: Warum sind langfristige, breite gesellschaftliche Verständigungen bei dem anstehenden „bedeutsamen Sachkomplex“ anzustreben oder gar notwenig? Und wenn solche Verständigungen erreicht werden sollen, wie sieht dann ein hilfreiches Konzept für die gesellschaftliche Kommunikation zu dem Thema aus? Braucht es dazu eigenständiger neuer Institutionen oder kann die erforderliche Zusammenarbeit und das gelingende Zusammenspiel der Akteure ad hoc organisiert werden?
Das sind vier Merkmale für eine erfolgreiche Arbeit einer Enquete-Kommission. Entscheidend ist die Frage, ob und wie der erforderliche Prozess der Kooperation und Verständigung von den Mitgliedern der Kommission tatsächlich geleistet wird. Ein Maßstab für den Erfolg ist die Frage, ob es gelingt, die Aufspaltung der Verständigung in Mehrheits- und Minderheitsvoten zu verhindern oder mindestens einzudämmen. Wenn die Kommission nur die in der Gesellschaft vorhandenen Meinungsunterschiede abbildet, dann ist das kein gutes Beispiel für die hilfreiche „Vorbereitung von Entscheidungen“.
Solche Prozesse zu entwickeln und zu steuern ist eine hohe Kunst. Und damit ist klar: Die Auswahl der richtigen Personen – insbesondere der Person, die den Vorsitz übernimmt – bedeutet eine gewisse Vorentscheidung für Erfolg oder Misserfolg.
Den guten Vorschlag, eine Enquete-Kommission beim Deutschen Bundestag zum Thema „Fluchtursachen bekämpfen“ einzurichten, möchte ich mit dem persönlichen Rat begleiten: Macht es. Aber macht es richtig. Oder lasst es.
Anhang: Liste der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestags
1 Psychiatrie (1971–1979)
2 Verfassungsreform (1973–1978)
3 Auswärtige Kulturpolitik (1973–1977)
4 Frau und Gesellschaft (1973–1981)
5 Neue Informations- und Kommunikationstechniken (1981–1986)
6 Jugendprotest im Demokratischen Staat (1981–1983)
7 Zukünftige Kernenergie-Politik (1979–1983)[4]
8 Chancen und Risiken der Gentechnologie (1984–1992)
9 Technologiefolgenabschätzung (1984–1989)
10 Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung (1987–1993)
11 Strukturreform der gesetzlichen Krankenversicherung (1987–1992)
12 Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre (1987–1995)
13 Zukünftige Bildungspolitik – Bildung 2000 (1987–1994)
14 Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur (1992–1994)
15 Schutz des Menschen und der Umwelt (1992–1998)
16 Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit (1995–1998)
17 Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik (1992–2002)
18 Sogenannte Sekten und Psychogruppen (1996–1998)
19 Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft (1996–1998)
20 Recht und Ethik der modernen Medizin (1. Kommission) (2000–2002)
21 Ethik und Recht der modernen Medizin (2003–2005)
22 Globalisierung der Weltwirtschaft (1999–2002)
23 Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements (1999–2002)
24 Nachhaltige Energieversorgung unter den Bedingungen der Globalisierung und der Liberalisierung (2000–2002)
25 Kultur in Deutschland (2003–2007)
26 Internet und digitale Gesellschaft (2010–2013)